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Corinna Antelmann: Die Andere

Sie lässt nicht locker, seit Tagen. Und seit Nächten. Bildet sich ein, mir ebenbürtig zu sein. Aber da hat sie sich geschnitten. Sie soll mir meine Präsenz bestätigen, weiter nichts. Basta.
Komm raus, wenn du dich traust!, schreie ich und erschrecke über die Wut in meiner Stimme. Sie richtet sich gegen die Eine, immer nur gegen sie -
Aber vergiss nicht: Ich war vor dir da. Ich bin einzig, kapiert?
Sie schweigt, aber sie verfolgt jeden meiner Schritte, ich weiß es. Und mir fallen diese Geschichten ein, von Spiegelbildern, die lebendig werden und dergleichen mehr, aber das fällt unter die Rubrik Phantastik und interessiert mich nicht. Wohl aber interessiert mich die Dreistigkeit, mit der sie vorgibt, ein gewöhnliches Spiegelbild zu sein, doch kaum drehe ich mich um, macht sie sich sogleich selbständig und degradiert damit mich bis hin zur Gewöhnlichkeit. Aber nicht mit mir. Ich bin etwas Besonderes. Sie haben mich Katharina genannt, Katharina, die Große, und das allein zeugt bereits von einer gewissen Größe -
Oder etwa nicht? Katharina heiße ich, hörst du? Überleg dir lieber, mit wem du es aufnehmen willst!
Ich hingegen überlege lieber nicht, wie sie wohl heißen könnte.
Ein stiller Zweikampf tobt in meinem Studierzimmer, denn tatsächlich schreie ich allein mit der Stimme meiner stummen Befürchtungen. Nie werde ich ein Wort an sie richten, darauf wartet sie ja nur. Sobald ich mit ihr zu sprechen beginnen würde, gäbe ihr das die Bestätigung, tatsächlich zu existieren, und das ist es vermutlich, was sie will. Es gibt sie aber nicht: Nichts anderes macht den Spiegel als das Spiegeln, hat irgendein schlauer Kopf einmal gesagt -
Ja, so belesen bin ich, denk nur, und nun schau dich selbst an: Buchstaben in Spiegelschrift, da kannst du kaum behaupten, du wüsstest Bescheid.
Ich beuge mich über meinen Schreibtisch, das edle Stück. Er ist aus alter, deutscher Eiche gezimmert und könnte Leibniz gehört haben oder Goethe, dem Einzigartigen, der sich nicht einmal im Traum infrage stellen lassen würde. Schon gar nicht von jemandem wie Thomas Bernhard, der in ihm ja immer nur den Schrebergartendichter gesehen hat, der er in Wirklichkeit auch ist, wenn man mich fragt. Aber jemandem wie Bernhard (und mir sowieso) hätte Goethe einfach den Rücken zugekehrt. Hätte den Schreibtisch herumgewuchtet und sich gedacht: Lass den Ösi nur schwätzen, den armen Wicht.
Auch ich wuchte meinen Schreibtisch herum, so dass er auf die rechte Ecke des Zimmers zeigt, zur hinteren Wand. Eine Anordnung, die meinen Geist beschränken wird, aber sei’s drum. Hauptsache, ich habe den Spiegel nun im Rücken. Mein Hinterteil ist alles, was ich ihr zeigen werde, und zwar sofort und, ich gestehe es, mit Genugtuung. Dann widme ich mich wieder meinen Studien: Das Subjekt ist ein Subjekt ist ein Subjekt. Ein denkendes Ich. Ja. Ein handelndes Ich. Manchmal. Spiegeln aber ist, wenn das Wort erlaubt ist, ein passives Tun -
Hast du gehört, Fräulein Aktiv-sein-wollen?
Sie zeigt mir die lange Nase, findet obendrein, dass ich über die Maßen geschwitzt habe beim Umwuchten des Möbelstücks, ja, rümpft sogar eben diese lange Nase ob des scharfen Geruchs, den meine Achseln verströmen; ich rieche es selbst. Hält mich wohl für schwächlich. Es stimmt, ich bewege mich zu wenig und meine körperlichen Kräfte lassen dementsprechend zu wünschen übrig, ebenso die Kondition.
Ich stehe auf und gehe zum Herd mit den alten Elektroplatten, die mit schwarzer Schuhcreme aufpoliert worden sind, so glaube ich jedenfalls. Als ich ihn das erste Mal benutzt habe, sind Dämpfe emporgestiegen, und nachdem sie sich wieder verzogen haben, blieb eine rostige Farbe zurück.
Ich setze Wasser auf, um mir einen Filter-Kaffee zu machen. Der wird mich wieder munter machen, denn tatsächlich haben mich die Ereignisse der letzten Zeit leicht erschöpft.
Müde von dieser klitzekleinen Anstrengung, so meine ich ihr Höhnen zu hören, auf das sie noch ein seltsam gackerndes Gelächter setzt, und also wirbele ich schon wieder herum, um ihr mit meinen bloßen Händen eins über den Kopf zu ziehen. Aber wie immer, wenn meine Wut mit mir durchgeht, verletze ich mich nur selbst. Die Spiegelscheibe ist hart, meine Faust weich, und der Schmerz wird über die Knöchel hinauf hinter meine empfindsame Denkerinnenstirn gepumpt. Das tut weh. Was nur habe ich mir dabei gedacht, die geballte Hand auf den Spiegel zu rammen, dort ist nur mein Gesicht -
Meines, dass du dir ja nichts einbildest, meine liebe Dame!
Ich drehe mich hinüber zur Küchenzeile, um aus dem schäbigen Kühlfach ein Coolpack herauszuholen. Sogleich nutzt sie den Augenblick und grinst mir in den Rücken hinein. Wie soll ich arbeiten bei dem Gefeixe? Das ist ihr natürlich egal, der Anderen. Sie ist verrückt. Oder auf jeden Fall hinterhältig.
Ich nehme mir einen Becher schlechten Kaffee, den Rest kippe ich in die Thermoskanne, deren Silberbelag von außen abblättert. Ungenügend aufgeputscht dämmere ich weiter durch meine Bücher und versuche alle paar Minuten, mein übermütiges Abbild auszutricksen. Aber jedes Mal, wenn wir uns anschauen, macht sie ein Engelsgesicht, das mir irgendwie bekannt vorkommt. Ich versuche es mit einer wütenden Grimasse. Sie kann auch das. Nur überzeugender, aber so darf ich nicht einmal denken. Ich mache ein Experiment, tue, als ginge ich zurück in die Konzentration, und erst nach einer Stunde unentwegten, stillen Lesens, drehe ich mich abrupt um und schaue sie an. Und da sehe ich es: Sie hat gerade erst den Mund zugeklappt. Auf ihrer Oberlippe glänzt ein Rest Spucke. Mit wem oder was in aller Welt redet sie? Sie ist allein, wie ich, das sieht jeder.
Und wenn nicht und wenn doch?
Wenn wenigstens mein Nachbar klingeln würde, aber der schläft immerzu und erholt sich von einer seiner Techno-Partys.
Ich nehme eine Zigarette und puste ihr absichtsvoll den Rauch in die Augen. Auch sie pustet ihn mir in die Augen, und ich spüre, wie er in mich hineinkriecht, aber natürlich, er stößt an die Spiegelfläche und wird auf mich zurückgeworfen. Alles fällt auf einen zurück, ist es nicht so, überlege ich und gebe mir recht, auch wenn mir niemand einfällt, auf den der Ausspruch zurückzuführen wäre. Vermutlich auf mich selbst.
Ich rauche, sie raucht, wir rauchen. Soweit, so gut. Aber als ich die Glut ausdrücke, weil die Nacht mich überrascht hat, und ich aufstehe, um in der Dunkelheit zum Bett hinüberzutaumeln, bleibt sie stehen und grinst, solange, bis ich den Lichtschalter gefunden habe, den ich kaum zu drehen vermag, so weh tun meine Knöchel noch immer von dem vergeblichen Schlag. Und plötzlich steht auch sie am Lichtschalter, schnell ist sie ja, während ich mir die Handgelenke reibe und sicher bin, mir eine Sehnenscheidenentzündung zugezogen zu haben.
Und was ist mit dir, frage ich, immer hübsch gesund, unversehrt und trallala, nehme ich an?
Ich spüre die Überlegenheit, mit der sie meinem Stumpfsinn lauscht. Lass sie schwätzen, das dumme Ding, so sind ihre Gedanken, die höre ich bis hierher. Bis in dieses Zimmer. Über die Grenze hinaus.
Ich trete näher an den Rahmen heran; sie kommt mir entgegen. Als ich die Spiegelfläche betaste, fällt mir mit einem Mal Jean Marais ein. Der hat in diesem alten Filmstreifen von Cocteau einfach seine Hand ausgestreckt und ab: Hinein in den Spiegel, in andere Gefilde, womöglich in Quecksilber, das wie Wasser tut. Ich finde das grundsätzlich gut. Wichtig auch. Interessant. Seinen Horizont erweitern, woanders hingehen als üblich.
Aber hinter den Spiegel?
Ich lasse sie stehen, denn ich habe Hunger. Das Einzige, was ich finden kann, ist eine einzelne Scheibe altes Knäckebrot. Ich krame einen Rest ranzige Butter hervor und verteile sie träge. Mit dem Schlaf wird es heute nichts werden, denn so müde ich auch sein mag, ich darf sie nicht aus den Augen lassen. Vom Wachen zum Schlafen, das ist so ein Zustand, den sie möglicherweise zu nutzen versteht. Und mir fällt ein Zitat von Jorges Luis Borges ein: Wenn wir, während wir hier wachen, wir woanders schlafen... oder so ähnlich, und ich denke: Genau, und während ich schlafe, wacht sie und überlegt, wie sie mich töten könnte, damit sie einmalig wird, denn diese finsteren Gedanken hegt sie doch, wenn sie mein Spiegelbild ist, und ich sie also besser kenne als sie sich selbst. Und ich nehme das Messer, mit dem ich gerade die Butter auf das Knäckebrot schmieren wollte, richte es gegen den Spiegel und mache: Buh, während ich nach vorn stoße.
Sie zuckt nicht einmal mit der Wimper.
Dass ich bereit wäre, jemanden zu töten, nur, um mich nicht infrage stellen zu lassen, wer hätte das gedacht -
Aber denk mal an Leibniz und seinen metaphysischen Erklärungsversuch der Unvergleichlichkeit: Gott hat nicht gewollt, dass es zwei Substanzen gibt, die hinsichtlich aller ihrer inneren Eigenschaften übereinkommen.
Jawohl.
Warum das so sein soll, weiß ich nicht.
Das Knäckebrot in der Hand, gehe ich zurück zu meinen Büchern. Neben Leibniz liegt das wabbelige Coolpack. Ich trage es zurück zum Eisfach; vielleicht brauche ich es noch einmal, solange ich mich im Krieg befinde; sicher ist sicher. Als ich es zwischen die Eisverkrustungen schiebe, entdecke ich ein vereistes Gebilde, das unter Umständen die Linsensuppe vom letzten Jahr sein könnte. Ich ziehe das Tupperteil aus seiner vertrauten Umgebung und versuche, es unter dem Wasserhahn zumindest soweit anzutauen, dass ich erkenne, was es tatsächlich ist, und ob es überhaupt etwas ist. Ein Knäckebrot allein wird nicht reichen, und der Hunger schert sich nicht darum, was ich will oder nicht will.
Die Freiheit des Willens hat seine natürliche Grenze, ob ich nun finde, dass Essen unnötige Zeitverschwendung sei oder Goethe ein Schrebergartendichter: Ich gehöre gefüttert -
Wie steht es mir dir, musst sicher nie so etwas Profanes tun wie essen oder schlafen, was?
Wenn das stimmt, dann würde das letztendlich doch bedeuten, dass sie mir überlegen ist, mir, der durchschnittlichen Katharina, die Nahrung in sich aufnehmen muss und aufs Klo gehen, sprich: dem Kreislauf des Lebens unterworfen ist, den Grenzen des Körpers und des Daseins -
Das käme dir gerade recht, was?
Es gibt die Technik, um zum Mars zu gelangen, die Möglichkeit, ein Herz in einen anderen Menschen zu pflanzen und das Wissen, einen Menschen zu klonen, aber essen müssen wir noch immer, denke ich, und hake mich an der Vorstellung fest, geklont werden zu können.
In was für einer Welt leben wir, was meinst du? frage ich sie, und jetzt frage ich laut und das macht mir Angst, denn ich wollte sie doch ignorieren. Das gesprochene Wort kreiert Wirklichkeit, ist es nicht so? Und Kommunikation ein Gegenüber.
Die Katharina vor den Spiegeln, das bin ich. Sitze in einem altmodischen Kämmerlein, wo es dennoch Internetanschluss gibt. Hinter dem Spiegel aber, da geht es anders zu. Ich frage mich, in was für einer Welt sie wohl wohnt. Bis dorthin ist der sogenannte Fortschritt bestimmt noch nicht gedrungen. Die Zeit wird stehen geblieben sein, vielleicht, nachdem Oscar Wilde Bildnisse hat lebendig werden lassen. Oder sie ist doch noch bis Cocteau gekommen, als Bilder schon gehen gelernt hatten, um Schauspieler durch Spiegel marschieren zu lassen. Weiter auf keinen Fall -
Woher ich das weiß? Keine Ahnung, frag nicht so blöd. Dort hinter dieser Scheibe, da muss der Lauf der Dinge doch verzögert zu dir gelangen. Denk an die DDR.
Ist doch so. Zieh eine Trennscheibe zwischen zwei Wirklichkeiten, und die eine schreitet vorwärts Richtung Zukunft und die andere eben nicht, denke ich und grinse, weil ich weiß, der Vergleich hinkt, aber ich fühle meine Überlegenheit zurückkehren, mit der ich obendrein in der Lage bin, den Herd zu bedienen und den Topf aufzusetzen, und sie gleichsam zwinge, es mir nachzutun. Dann schütte ich das Etwas wie Linsensuppe hinein, das ich nicht essen werde. Ich sollte einkaufen gehen, aber jetzt ist Nacht; außerdem werde ich vorerst bestimmt nicht hinausgehen, um ihr womöglich die Herrschaft über das Zimmer zu lassen. Mein Zimmer wohlgemerkt. Solange ich sie halbwegs im Blick behalte, ist sie meinen Bewegungen ausgeliefert -
Ich habe keine Angst vor dir, nicht, dass du das denkst.
Im Gegenteil schiebe ich meinen Stuhl jetzt so, dass wir einander gegenübersitzen, während ich endlich das Knäckebrot esse, das leicht nach Mehlwürmern schmeckt, während die Linsensuppe auf dem Herd noch ihren Aggregatzustand ändert.
Schmeckt es dir, Süße? frage ich lauernd und wähle bewusst diesen verniedlichten Ausdruck, um sie herabzuwürdigen.
Was bin ich für ein gehässiger Mensch.
Nach dem Knäckebrot kommt mein Hunger erst richtig in Schwung. Aber auch sie sieht nicht glücklich aus. Und müde bin ich inzwischen zum Umfallen. Ich trinke einen weiteren Kaffee aus der Thermoskanne und kippe zusätzlich die Pillen vom Nachbarn obendrauf, meinem Techno-Freak, der so sehr Klischee ist, wie es nur die Wirklichkeit erlaubt. Er versucht schon seit längerer Zeit, mich zu bekehren, gibt mir rote und gelbe Pastillchen, um mich aus meinem Papier herauszuholen, wie er sagt. Und meint dabei meinen papierenen Kopf. Er ist nett, aber die Musik, die er hört, furchtbar, und die Pillen unheimlich, weshalb ich sie bisher nie angerührt habe. Aber sie, natürlich: sie!, wer sonst, bringt mich jetzt dazu, das Unheimliche auf mich zu nehmen –
Was machst du mit mir?
Ich bin ja selbst schuld, mich von einem Abbild zu Handlungen verleiten zu lassen, die nicht die meinen sind –
Hörst du? Nicht die meinen!
Und ich beschließe, sie doch lieber wieder zu ignorieren. Ich werde schlafen und den Spiegel ruhen lassen. Oder wachen, je nachdem, mir egal. Soll sie ihr eigenes Leben führen. Hinter meinem Rücken, mich kratzt das nicht. In meiner mir eigenen Art, die niemand sonst teilt, niemand, niemand, niemand, bin ich imstande, dem Kleinmut zu trotzen.
Ich lösche das Licht und lege mich auf die abgegammelte Matratze neben der Spüle, aus der gelblicher Schaumstoff hervorquillt. Der Schlaf bleibt aus; die Pillen wirken offensichtlich. Stattdessen sucht mich Goethe heim mit seinem Faust: Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider auch Theologie durchaus studiert, mit heißem Bemüh‘n. Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor.
Verwirrt von voreilig verzehrten Drogen bin ich, verkümmert, aber weiter als in Goetheworten zu denken, erniedrige ich mich nicht. So tief sinke ich nie und nimmer; soweit lasse ich es nicht kommen. Sie hat mir das eingeflüstert: Sie! Und ich reiße die Taschenlampe hoch, die ich heimlich unter die Decke geschummelt habe, nicht einmal in der Erzählung habe ich sie erwähnt, damit ihr ja kein Verdacht kommt, und richte sie auf den Spiegel. Sofort muss ich die Augen schließen, weil ich mich beinahe schmerzlich blende. Und der Moment des Zukneifens reicht für sie bereits aus, sich in die Waagerechte zu begeben, das Haar zu verstrubbeln und ein angeekeltes Gesicht aufzusetzen, in dem ich das meine erkenne.
Sie ist nicht nur schnell; sie ist ein Überflieger.
Ich würde sie gern nach ihrem Namen fragen, um sie ins Straucheln zu bringen. Sie wird sagen: Gestatten, ich heiße wie du, und dann spätestens wäre der Beweis getätigt: Ich bin es, um die es geht und nur ich. Was aber mache ich, wenn sie sagt: Gestatten, du heißt wie ich? Dann nehme ich meinen alten Turnschuh und werfe ihn in ihr blasses Mäuschen-Gesicht, bis es in tausend Splitterteilchen zerbricht.
Die Macht den Wahnsinnigen.
Ich knipse die Taschenlampe wieder aus und bediene mich der beschwörenden Kraft anderer Worte: Komm, süßer Schlaf.
Er erhört mich, der Schlaf, und bringt mir Träume von großen Maschinen, in denen Schafe geklont werden und Affen, und in einem Abteil, ja, da sitzen die Menschen, aufgereiht wie in dem Regal eines Spielzeuggeschäfts. Hunderte Gleicher, und ich schrecke auf. Das ist ein Alptraum. So ein Bild kann nur meinem kleinbürgerlichen Denken entspringen, das versucht, aus dem Anderen das Gleiche zu machen, um etwas wie Identität zu kreieren.
Der Kleinbürger ist ein Mensch, der unfähig ist, sich das Andere vorzustellen, sagt Roland Barthes. Was hättest du in meiner Situation getan, Monsieur Barthes? Qu’est ce que tu aurais fait? Oder heißt es auras? Ich habe es vergessen, und daran ist wer-wie-was schuld?
Kleinbürger hin oder her, gegen die gesammelte Mannschaft von Klonen erscheint mir mein liebes Spiegelbild plötzlich zuckersüß und sahnemäßig harmlos. Und glücklicherweise noch immer hübsch dahinter.
Wenn wir, während wir hier schlafen, wir woanders wachen und so jeder Mensch zwei Menschen ist, dann will ich die treffen, die wacht, während ich schlafe. Das war es, so oder ähnlich hat es Borges formuliert; mein Gedächtnis jedenfalls funktioniert einigermaßen. Vermutlich waren die Pillen nichts als Halsbonbons, schließlich habe ich auch schlafen können. Er hat mich auf den Arm nehmen wollen, mein verrückter Nachbar.
Ich spüre, wie mich der Gedanke an ein mögliches Treffen nicht mehr loslässt, und offenbar weiß die Süße dort drüben davon. Von wegen: Fremde Gefilde. Einander vorstellen, sich kennen lernen. Grenzen überschreiten, Horizonte erweitern. Sie wippt bereits hin und her, als wolle sie den ersten Schritt tun. Hält sich wohl für freigeistiger als ich. Für mutiger. Da muss ich ihr natürlich zuvorkommen. Wollen doch mal sehen, wer hier die Oberhand behält.
Und ich sage: He, und zwar laut mit einem verkaterten Klang, der mir fremd ist, und die ich dann doch den Pillen zuschreibe. He, sage ich, dann versagt die Stimme.
Zu mehr bin ich nicht fähig.
Lahm stehe ich auf, nehme meine Hand und strecke sie auf die Spiegelfläche zu, schon reckt sie mir die ihre entgegen, und dann erinnere ich mich an Jean Marais und wünschte, ich wäre er. Ich tippe mit dem Finger gegen das Glas in Erwartung von Quecksilber, etwas in der Art, aber der Spiegel ist kalt und glatt wie eh -
Nichts anderes macht den Spiegel als das Spiegeln.
Zum Passivsein geboren, ich sage es ja. Wandelnde Spiegelbilder entspringen einer zurückliegenden Zeit, als die Menschen noch vor sich hindachten und die Muße hatten, sich vorzustellen, was es neben der Wirklichkeit noch alles geben könnte. Und jenseits von Daten. Heute jedoch sind sie nicht länger denkbar, diese Art von Geschichten. In der Gegenwart hat das Virtuelle das Spiegelige längst abgelöst, da gibt es auch ohne mysteriöse Vorgänge genügend Doppelgänger. Brauchst dich nur ins Netz stellen, schon grinsen sie dir vom Bildschirm entgegen. Da hast du sie, deine Dopplungen. Oder lass dir eine Zelle entnehmen und Bingo. Sagen wir es, wie es ist: Spiegeldurchschreitungen sind out. So out wie Cocteau. Die Grenzen liegen woanders als im Räumlichen. Im Geist womöglich, in der Vorstellungskraft.
Licht an und zurück ins wirkliche Leben: Mein Schreibtisch wartet.

Ich schlage die markierten Stellen in den Büchern auf, und nun ist es mir egal, dass sie hinter meinem Rücken zu tanzen beginnt, ja, ich schaue nicht einmal hin. Ein wenig beneide ich sie, dass ihre Beine herumwirbeln, während ich die meiste Zeit meines Lebens allein meinen Kopf benutze, aber so ist das nun einmal. Zur Denkerin geboren. Wäre Goethe zum Dichterfürsten aufgestiegen, wenn er herumgetanzt hätte, statt in seinem Studierzimmer über Faust zu vergilben? Sicher nicht. Aber Goethe ist zugegebenermaßen ein schlechtes Beispiel. Wer möchte ihm schon nacheifern? Ich jedenfalls habe es nicht nötig, jemandem nachzueifern –
Schon gar nicht dir, hüpfendes Huhn!
Wofür soll das gut sein, dieses Tanzen, frage ich mich und dann sie, drehe mich herum und schaue sie dabei an. Sie hat aufgehört mit dem Gewirbel und sitzt vor ihren Büchern in Hieroglyphenschrift, den Oberkörper mir zugedreht.
Bilde dir ja nichts ein! Du bist mein Abbild, weiter nichts, klar, sage ich, denn sicher bin ich mir da nicht mehr.
Sie antwortet nicht und sieht mir nur wütend entgegen. Gemeine Lügnerin.
Warum kann sie so leicht tanzen?  Ohne Anstrengung, einfach so. Vermutlich gibt es bei ihr hinter dem Spiegel kein Gewicht. Nichts, was einen ankettet wie die Last der Schwerkraft und die natürliche Grenze, die sie uns durch ihre permanente Anwesenheit hier beschert.. Wie sieht es dort aus, in dem Dahinter? Was geschieht dort?
Wer ist sie...?
Neugier ist der Anfang aller Weisheit. Wer, verflucht, hat das gesagt? Ich kann mich nicht erinnern. Mein Denken ist besetzt. Was, wenn es wirklich ein Dahinter gäbe, wenn alles doppelt existierte, und ich sitze hier herum, pumpe Wissen in mich hinein und weiß von nichts. Wie anders es sein könnte. Womöglich.
Also gut, ich komme -
Hast richtig gehört, Klein-Katharina!
Ein wenig herabsetzen muss ich sie dennoch, so schreibt es die Hierarchie vor.
Sie schweigt schon wieder. Tut so, als bewegten sich ihre Lippen nur dann, wenn ich rede. Ihre Verstellung ist perfekt.
Ich stelle mich vor den Spiegel, und sie steht mir gegenüber. Scheinheilig, aber so kenne ich sie ja bereits. Und dann bündele ich das, was ich weiß, mit dem, was ich will, sehe weiter als bis zum Rand in das Dahinter, über die Grenze hinaus, und schiebe sachte meine Hand durch die Spiegelfläche hindurch statt auf sie zu. Den Fehler mache ich nicht noch einmal.
Ein erweiterter Katharina-Körper, die Wiedergeburt von Jean Marais.
Mein Finger taucht ein, matschig fühlt sich das an, dann setze ich einen Schritt über den Rahmen und stelle den Fuß wieder ab, und er steht auf den gleichen ollen Dielen, die es in meinem Zimmer gibt, gegenüber der Spüle, schräg vom Schreibtisch, der zur Ecke zeigt. Mit dem Kopf zur Wand.
Allerdings zur linken Wand.
Ich klimpere mit meinen Lidern, die schwer sind vom Quecksilber, das in den Wimpern fest hängt, und dann wage ich es, laut zu atmen und nehme den Finger auch nicht fort, als er auf den Körper trifft. Auf meinen Körper, klar. Warm fühlt er sich an, pulsierend. Er fühlt sich an wie ich. So atmet kein Mensch aus Glas und auch kein Computerwesen. So atmet nur sie. Nein, ein Klon ist sie gewiss nicht; ich stehe hier mit mir herum, ohne dass mir irgendwer irgendwelche Zellen entnommen hätte. Überhaupt, dieses ganze Drumherum mit Spiegelverkehrt und Pipapo; das kann nur sein, was es ist: Die Welt hinter dem Spiegel.
Dahinter. Ich bin da.
He, sage ich, und dabei meine ich mich, und das, was ich für mich gehalten habe, und meine sie, die sie mir zuwider war, aber so schlecht nicht aussieht und sich besser anfühlt als ich gedacht habe. Vertraut irgendwie. Und auch ihren Geruch mag ich. Eine leichte Schärfe von Schweiß, darunter dieses Gemisch aus Mango und Zimt, das ich so gut kenne.
In meiner Beschränktheit, die sich auch durch die Grenzüberschreitung nicht augenblicklich löst, frage ich sie jetzt tatsächlich, wie sie heiße, und sie lacht und antwortet, na, das wisse ich jawohl. Frech ist sie, wie ich vermutet habe.
So frech wie du, sagt sie und lacht gackernd und möchte nicht aufhören damit. Ihr Lachen klingt etwas anders als meines, rauer irgendwie, extrovertierter, aber durchaus sympathisch. Ob ich ihren Humor teile, weiß ich nicht, weiß ich doch, denn ich lache ebenfalls (mit einem gackernden Unterton) und denke, wie schön es doch sei, wenn man jemanden treffe, der über das Gleiche lachen könne wie man selbst. Ich glaube, es war eine gute Idee herzukommen. Wir werden uns dieselben Filme anschauen, sogar Cocteau, der meinen Freunden, soweit ich welche habe, zu altmodisch ist: Out eben. Aber mit ihr werde ich im Kino sitzen, ohne dass sie beim Zusehen einschläft und mich gekränkt im einsamen Wachen zurücklässt, mit meiner Begeisterung, die ich eben nur mit ihr teilen kann. Und sie mit mir. Endlich jemand, der kapiert, was man meint, auch ohne viele Worte. Auch ohne einen Stapel Bücher.
Oder schaut sie lieber Coppola? Die Neugier ist aller Weisheit...
Mir wird schwindelig, und auch sie kreiselt um ihre eigene Achse, aber bei ihr sieht das aus wie ein Einschwingen. Als ahme sie mich zwar nach, aber nur, um uns in ein gemeinsames Gleichgewicht zu bringen.
Und jetzt? frage ich in der Hoffnung, dass sie es wissen könne, obwohl natürlich nach wie vor ich unbestritten die Schlauere bin von uns beiden. Verdammt, noch immer denke ich in diesen Kategorien. Gib deinen absoluten Standpunkt auf, Katharina, Liebe, sage ich mir, während die Gedanken rattern und ich gegen den Schrank renne, der doch immer links vom Spiegel stand.
Lass uns tanzen, sagt sie, und ich muss schlucken, weil ich plötzlich denke, womöglich teilen wir tatsächlich nicht die gleichen Interessen. An Tanzen jedenfalls habe ich nie zuvor gedacht in meinem recht jungen Leben. Ja, sie ist anders, und womöglich ist das gut so, denn sonst werden wir uns irgendwann zu Tode langweilen miteinander, weil wir das Gleiche denken, das Gleiche wollen und das Gleiche mögen. Und die gleichen Bücher lesen, die sowieso bereits gleichgemacht sind. Dann ist die Beschränktheit vollkommen.
Aus dem Anderen nicht das Gleiche werden zu lassen, wer hat das gesagt, weißt du’s? frage ich sie mit prüfendem Unterton.
Ohne darauf einzugehen, packt sie mich und wirbelt mich herum, zu blöd, jetzt habe ich nicht aufgepasst. Ich überlasse ihr die Führung, das darf nicht, das kann nicht, denke ich noch, aber da finde ich es bereits auf unerwartete Weise angenehm, dieses Tanzen, und überlasse mich ihr gern, weil: Irgendwie hat sie es raus. Und dann drehen wir die Rollen um, und auch das geht, und ich sage zu mir selbst: Mensch, Katharina, hättest auch mal eher darauf kommen können, dass Tanzen Spaß macht. Hat in keinem der Bücher gestanden, die ich gelesen habe, sträfliche Unterlassung aber auch. Und was mich angeht: Eine Verschwendung.
Wir tanzen hervorragend miteinander.
Daraus könnte etwas werden.
Kurz überlege ich, in den Spiegel zu schauen, um uns zu betrachten. Um mir zu bestätigen, wie gut es aussieht, was wir hier tun, was für ein schönes Paar wir sind. Aber ich traue mich nicht. Was, wenn wir plötzlich zu viert dastehen und dann zu acht, zu sechzehnt, und dann sitzen wir nebeneinander wie in dem Spielzeuggeschäft aus meinem Traum.
Ich lasse die Augen zu und tanze weiter und rieche von weit her die angebrannte Linsensuppe, die ich vergessen habe, vom Herd zu nehmen.
Später werde ich vorschlagen, zusammen essen zu gehen. Zum Italiener vielleicht, da war ich lange nicht. Ich bin gespannt, was sie am liebsten mag. Die Neugier ist der Anfang aller Weisheit. Einstein hat das gesagt, jetzt fällt es mir wieder ein. Oder vielleicht bleiben wir hinter dem Spiegel, wo das Essensthema ein noch unbeantwortetes Fragezeichen ist, tanzen in die Ewigkeit und bleiben: Viele. -
Michel Foucault hat die Pluralität als Grundverfassung der Gesellschaft gesehen, sage ich.
Und sie: Kannst du einfach mal die Klappe halten?
Drum hab ich mich der Magie ergeben, ob mir durch Geistes Kraft und Mund
nicht manch Geheimnis würde kund; dass ich nicht mehr mit saurem Schweiß
zu sagen brauche, was ich nicht weiß; dass ich erkenne, was die Welt
im Innersten zusammenhält, denke ich heimlich und in Goethes Worten, aber behalte es für mich.
Schluss damit; schon zieht sie mich fort,
ins Grenzenlose.

ENDE

Corinna Antelmann
Seit meinem künstlerischen Studium (Film, Theater, Literatur, Musik) bin ich vorwiegend als Kino-Drehbuchautorin (u.a. Drehbuchförderung Nordrheinwestfalen, Drehbuchförderung ÖFI) und Dozentin für Storytelling (Lehrauftrag FH Salzburg) tätig, daneben habe ich für Produktionsfirmen (Trickompany Hamburg) gearbeitet, aber auch als Dramaturgin für Theaterprojekte (u.a. Das Haus meines Lebens, Kampnagel Hamburg) und Regieassistentin für Hörfunk (NDR). Kurzgeschichten sind in Anthologien erschienen (Geest-Verlag, Bibliothek der Provinz) und in der Zeitschrift JÖ. Von Norddeutschland nach Österreich: Seit fünf Jahren lebe ich in Linz und habe dort für meine Jugendromane Die Schattenseite des Mondes und Maja hasst Bienen jeweils das Mira-Lobe-Stipendium erhalten. Meine Romane Die Farbe der Angst und Ins Paradies sind im Resistenz-Verlag erschienen, ebenso der Bild- und Literatur-band Las Almas del Tango, der gemeinsam mit dem Maler Anton Kitzmüller entstanden ist.
Übersicht über bisherige literarische Veröffentlichungen
Kurzgeschichten, Erzählungen, Romane: Tod eines Ornithologen. Kurzgeschichte. FreieZeitArt (Wiener Werkstattpreis), 1996. Die letzte Tat. Kurzgeschichte. Anthologie (Stadt und Stattliches) Geest-Verlag, 2003. Diverse Kurzgeschichten für JÖ (Jungösterreich – Zeitschrift für Jugendliche). 2007-2011. Kinderkram. Kurzgeschichte. Weihnachts-Anthologie Papierfresserchen, 2008. Las Almas. Kurzgeschichte in: Facetten 2009. Anthologie der Bibliothek der Provinz, 2009. Die Farbe der Angst. Roman. Resistenz-Verlag, 2009. Mai Day. Kurzgeschichte. FreieZeitArt (Internetportal Wiener Werkstattpreis), 2009. Ins Paradies. Roman. Resistenz-Verlag, 2010. Kontakt nach Wroclaw. Kurzgeschichte in: So ein Mensch. Geest-Verlag, 2010. Geschäfte mit dem Osterhasen. Oster-Anthologie Papierfresserchen, 2011. Diverse Kurzgeschichten auf www.geschichtenbox.com, 2010-2011. Las Almas del Tango. Literarischer Bildband. Resistenz, 2011. Kino/ TV: Einwickelgeschichten für die Sesamstraße. Studio Hamburg/ NDR. Tödliche Hochzeit (für die Serie Die Küstenwache). Opal Film/ ZDF. Schutzengel. Folgenexposés für die Serie. Zeitsprung/ SAT1. Zeichtricksequenzen für Junior-TV. EMTV/ SAT 1.
Homepage: http://www.corinna-antelmann.com/
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