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Stephen Sokoloff: Freie Liebe

Wortlos stürmte Marty zur Tür herein, ging sofort auf Pete los und begann, seinen Bauch mit dampfhammerartigen Faustschlägen zu malträtieren. Gegen diese Gewaltexplosion wäre Widerstand sinnlos gewesen. Entsetzt kauerte ich in meinem Lehnstuhl daneben und versuchte mich so klein und unauffällig wie möglich zu machen.

Eigentlich hätten wir Harriet, Petes Geliebte, erwartet. Als ich Marty, ihren Ehemann, im Türrahmen erspähte, wusste ich, dass sich seine Vorstellung von der freien Liebe in einer tiefen Krise befand. Dass er über derartige körperliche Kräfte verfügte, hatte ich nicht geahnt.
Vielmehr hatten mich seine eigenwilligen Ansichten und originellen Bemerkungen fasziniert. Einmal wünschte er sich zum Beispiel eine Pfeife herbei, die nur Ärzte hören können, und die ihnen das Trommelfell zerfetzt. Auch andere Akademiker verachtete er und konnte partout nicht verstehen, warum Pete und ich die Universität besuchten. Er selbst lieferte Bestellungen aus für Louis den Hutmacher, Harriets Vater, und verdiente damit so viel wie ein Hochschullehrer.

Vor allem aber predigte er die offene Sexualität, die seine Töchter eifrig praktizierten – allerdings nicht mit mir! Einmal setzte auch er seine Ansichten in die Praxis um, nachdem es ihm gelungen war, eine Frau als glühende Anhängerin seiner Philosophie zu gewinnen. Über diesen Erfolg äußerte er sich ekstatisch. „ Harriet ist das nicht wunderbar? Das ist der Anfang einer neuen Ordnung! Ehen sind passé, nur mehr die Liebe wird die Welt regieren!“ schwärmte er. Aber Harriet war keinesfalls begeistert. Noch Jahre danach lästerte sie über „das dumme, hässliche Urweib“. Von ihren Vorwürfen eingeschüchtert, wagte er kein zweites Mal, seine Ehefrau zu hintergehen, sondern beschränkte sich auf Lobpreisungen der sexuellen Anarchie.

Nach einer kurzen Pause bombardierte Marty seinen Konkurrenten erneut mit Fausthieben. „Ob er das überlebt?“ schoss mir durch den Kopf. Gelegentlich schielte er seitwärts nach mir, als ob er daran dachte, auch mich zu bearbeiten. „Hast du mir noch immer nichts zu sagen?“ keuchte Marty auf einmal. Minutenlang hatte Pete die Prügel, ohne zu klagen, über sich ergehen lassen.

„Es war ein schwerer Fehler“.

„Marty, du bist selbst an allem schuld!“, mischte ich mich ein. „Du hast Pete zu diesem Abenteuer mit deinen verkorksten Ansichten verleitet. Wahrscheinlich bist du nicht Manns genug, das einzugestehen. Du hast mich immer beeindruckt. Jetzt sehe ich, dass du hinterfotzig und falsch bist. Keineswegs der Leitstern der philosophischen Anarchie, sondern nur eine verkrachte Existenz!“

Marty antwortete nicht. Kein Wunder, ich hatte nur in Gedanken gesprochen. Ich war doch nicht lebensmüde! Außerdem war die Abreibung irgendwie an der richtigen Adresse gelandet. Pete war allzu unverfroren! Er hatte die magische Begabung, die Intimwünsche vorübergehender Frauen sofort aufzuspüren und blitzartig darauf zu reagieren. Oft verabschiedete er sich in derartigen Situationen abrupt von mir und kehrte nach etwa 30 Minuten mit strahlender Miene zurück.

Pete meinte, dass er gar nicht anders handeln könne, er stehe unter biologischem Zwang. Sein Verhalten änderte sich aber schlagartig, als er Harriet kennen lernte. Er hätte es nie für möglich gehalten, derart tiefe Gefühle für eine andere Person zu empfinden. Sie war eine intelligente und sehr belesene Frau von 45, sinnlich und mit einem Hauch von Mystik ausgestattet. Ich habe mir sein Gerede geduldig angehört, war aber innerlich überzeugt, dass es ihm nur um Sex ging. Schließlich hätte ich auch lieber mit Harriet als mit ihren kichernden Töchtern geschlafen.

„Du kannst gehen“, befahl mir Marty plötzlich. Das war also der Lohn für meine unfreiwillige Enthaltsamkeit! Ohne zu zögern verließ ich die Szene.

„Warum hast du die Polizei nicht verständigt?“ fragte mich ein sichtlich gekennzeichneter Pete drei Tage danach. „Die ganze Nacht hat er mich weiter so traktiert. Manchmal Pausen für seine Schimpftiraden genommen, dann wieder angefangen. Ich hatte solche Angst, ich dachte, er bringt mich um! Aber wahrscheinlich wolltest du das so. Du bist einfach nur neidisch auf meinen Erfolg bei den Frauen!“

Als er jenen Abend zu seinem Elternhaus zurückkehrte, wartete auf ihn sein nächster Triumph. Harriet tauchte plötzlich aus der Dunkelheit auf und warf sich ihm in die Arme. Aber Martys „Therapie“ zeigte nachhaltige Wirkung. Von seiner Liebesbesessenheit kuriert, schickte er sie zu ihrem Ehemann zurück.

Danach verlor ich den Kontakt zu der Familie. Jahre später erfuhr ich, dass sich Harriet einen neuen Liebhaber zugelegt hatte und Marty mit der „Menage a trois“ einverstanden gewesen sein soll. Von der freien Liebe hatte er zwar die Nase voll, war aber finanziell auf seine Frau angewiesen.

Stephen Sokoloff
geboren 1943 in Detroit, Mi., USA. Universitätslektor und Fachhochschul-Lektor in Linz, Österreich. Autor/Mitautor von zehn Sachbüchern, drei Satirenbänden und über 800 Beiträgen in Zeitschriften und Zeitungen. Sein neustes literarisches Werk: Sanft und Messerscharf, Freya Verlag, Linz, 2011. Mitglied des Oberösterreichischen P.E.N. Clubs.
Homepage: http://www.stephen-sokoloff.com/
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