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Karin Kehrer: Erinnerungen

„Glaubt ihr, dass Häuser so etwas wie ein Leben haben?“ Carla verschränkt ihre Hände und lächelt unsicher. „Ach, was, vergesst es einfach, war eine blöde Frage.“
Sie hat ein bisschen zu viel getrunken und dann kommt sie manchmal auf merkwürdige Ideen.
Wir treffen uns seit unserer gemeinsamen Studienzeit selten, aber regelmäßig, und die Abende werden immer lang bei Diskussionen über Gott und die Welt. Diesmal hat Jonas uns ins seine neue Wohnung eingeladen. Hundertzwanzig Quadratmeter in bester Lage, es riecht nach frischer Farbe und Neubeginn.
Jonas zieht an seiner Zigarette. „ Holz ist doch zumindest eine organische Substanz, da könnte man das schon glauben“, sagt er bedächtig. Jonas ist Architekt, er entwirft Holzhäuser. „Aber andererseits – ich weiß es nicht. Klingt doch ein wenig merkwürdig.“
„Es gibt Menschen, die glauben, dass sich etwas von der Energie der Bewohner, sei sie positiv oder negativ, in den Räumen festsetzen kann. Das sind dann diejenigen, die ihre Wohnungen regelmäßig ausräuchern.“ Carla will nicht aufgeben. Auch ihre Hartnäckigkeit kenne ich, wenn sie leicht betrunken ist. Vor Jahren war ich in sie verliebt und ich glaube, ich bin es immer noch. Es waren die verschiedenen Prinzipien, die uns keinen gemeinsamen Nenner finden ließen.
Jonas schüttelt den Kopf und drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus. „Das ist mir ein wenig zu abstrus, wirklich.“
„Was denkst du, Gregor?“ Carla sieht mich an. „Du bist doch auch so etwas wie ein Spezialist für Häuser.“
Eigentlich nicht, will ich sagen. Ich bin Baumeister, ich beschäftige mich mit Fakten, mit Zahlen. Da denkt man doch nicht über so etwas nach. Du weißt das doch.
Aber ich erinnere mich …
„Ich könnte euch eine Geschichte erzählen“, sage ich also stattdessen. „Nichts Spektakuläres, ein paar Eindrücke aus meiner Kinder- und Jugendzeit. Aber vielleicht beantwortet das deine Frage ein bisschen.“
Ich weiß selbst nicht, warum ich auf Carlas Idee einsteige. Werde ich alt und sentimental? Hat sie mich mit ihrer esotherischen Weltsicht angesteckt?
„Eine Geschichte?“ In Carlas blauen Augen lese ich Neugier. Es waren diese Augen, die mich von Anfang an fasziniert haben.
„Wie gesagt, nichts Aufregendes“, entschuldige ich mich schon im Vorhinein.
„Also - ich wuchs in einem kleinen Ort im Mühlviertel auf, wie ihr ja wisst. Er wurde von der Leinenweberei dominiert, es gab eine große Fabrik und ein paar kleinere Familienbetriebe, zu denen auch jener der Familie A. gehörte.
In der Straße, in der ich wohnte, hatten sie in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein Haus gebaut. Es ging ihnen finanziell wohl gut, denn es war für damalige Verhältnisse ein imposantes Gebäude. Mehrstöckig, eine Besonderheit. Es gab damals nicht viele mehrstöckige Wohnhäuser im Ort. Direkt neben dem Gehsteig befand sich eine Mauer, oberhalb davon stand das Haus, das man über eine Stiege mit Granitstufen erreichen konnte. Es wirkte also durch diese erhöhte Lage noch ehrfurchtgebietender. Zumindest für mich als Volksschüler, der jeden Tag zwei Mal daran vorbeigehen musste. Wie eine graue Eminenz ragte das Gebäude über mir auf, ernst und schweigend. Ich bildete mir immer ein, dass es mich beobachtete, wenn ich vorbeiging.
Am Morgen war es nicht so schlimm. Da schlief das Haus noch. Die kleinen, vergitterten Fenster waren mit blaukarierten Vorhängen verhängt und ich trippelte schnell vorbei, um es nicht zu wecken.
Zu Mittag, wenn ich nach Hause ging, war es etwas anderes. Da schaute mich das Haus aus dunklen Fenstern an, manchmal war die Haustür geöffnet, er sah aus wie ein zahnloser Mund.
Vor dem Haus stand eine Bank. Darauf saß, sobald die Witterung es zuließ, die Großmutter der Familie A., die als einzige dort wohnte.
Wer bist du, wem gehörst du an, woher kommst du, wohin gehst du?, pflegte sie jedes Mal zu fragen, wenn ich vorbeiging. Sie sah mich dabei ganz streng an und ich gab immer gehorsam Auskunft.
Sie stellte diese Frage übrigens jedem, der sie antraf. Sie war wirklich schon sehr alt und ein wenig senil.
Hin und wieder saß auch einer ihrer Söhne bei ihr auf der Bank. Er sah genauso streng aus wie sie. Er war Priester in der Stadt und wenn er zu Besuch kam, hielt er auch die Sonntagsmesse. Er hatte eine tiefe, durchdringende Stimme mit einem rollenden R, der ich immer ganz fasziniert lauschte.
Mir fällt nur eine einzige Gelegenheit ein, bei der ich das Haus auch betreten habe, gemeinsam mit meiner Mutter. Sie wollte Stoff für Bettwäsche kaufen. Es gab im Erdgeschoß eine Art Laden, in dem die Erzeugnisse der Fabrik feilgeboten wurden, meist Ausschussware, die günstig erstanden werden konnte, mit Karomuster oder Blaudruck, der so typisch war für unsere Gegend.
Ich erinnere mich noch an den düsteren Eingangsbereich, eine Tür führte linkerhand in die Wohnstube, darin saß die alte Frau. Sie hatte einen Rosenkranz um die mageren Finger geschlungen. Meine Mutter wechselte ein paar Worte mit ihr und ich war froh, als wir uns verabschiedeten. Die alte Frau war und blieb mir unheimlich und ich mochte die Düsternis nicht, die in der Stube herrschte.
Auf der gegenüberliegenden Seite konnte man eben diesen Laden betreten. Er hatte ein wunderschönes Gewölbe, war aber genauso finster und muffig wie die Wohnstube.
Die alte Frau starb eines Tages und das Haus verlor seine Stimme. Auch der Laden wurde aufgelassen, das Gebäude stand jetzt ganz leer.

Noch immer hingen die blaukarierten Vorhänge in den Fenstern, auch als das Glas längst zerbrochen war.“
„Es sind immer die Fenster, die bei leer stehenden Häusern zuerst kaputt gehen“, sagt Carla nachdenklich. „Das ist, als würde man einem Gebäude die Augen nehmen.“
„Wie dramatisch das klingt“. Jonas lacht. „Solche Fenster sind eine perfekte Zielscheibe für Jungen mit Steinschleudern, das ist alles.“
Ich schüttle den Kopf. „Glaube ich in diesem Fall nicht. Es gab in unserem Ortsteil nicht viele Jungen, außerdem – so direkt neben der Straße, da traute sich eigentlich keiner. Ich natürlich auch nicht.“
„Und? Was ist dann geschehen?“ Carla schenkt mir Wein nach, streift mit den Fingerspitzen über meinen Handrücken.
Ihre Berührung bringt mich kurz aus dem Konzept. „ Was dann geschehen ist? Nicht viel. Ich sagte schon, es ist keine spektakuläre Geschichte. Das Haus verfiel. Man merkte es nicht sofort, aber die Mauern begannen zu bröckeln, Gras setzte sich in den Pflastersteinen davor fest. Das Blumenbeet entlang der Hausmauer verwilderte. Aber noch immer erntete jemand die Birnen vom Baum, der an einem Spalier hochwuchs. Oft ging ich vorbei, sah sie da hängen und traute mich nicht, eine davon zu nehmen. Sie gehören nicht uns, pflegte meine Mutter streng zu sagen.
Wenn ich vorbeiging, roch und spürte ich den Atem des Hauses, besonders an heißen Sommertagen. Einen kalten, muffigen Hauch von uraltem Staub und Feuchtigkeit, vermoderndem Stoff und Fäulnis. Dann ging ich schnell weiter, um ihn nicht mehr riechen zu müssen.
Manchmal, als ich schon älter und mutiger war, schlich ich um das Gebäude, versuchte, durch die zerbrochenen Fenster zu spähen, aber sie lagen noch immer zu hoch. Die Haustür war fest verschlossen. Die Bank, auf der die alte Frau gesessen hatte, stand nicht mehr da, aber es gab noch den Steintrog, der das Hauswasser fasste. Es plätscherte aus einem dünnen Rohr. Ich trank immer aus der hohlen Hand und es schmeckte herrlich kühl. Wenn das Abflussrohr mit alten Blättern verstopft war, räumte ich sie sorgfältig weg, auch wenn mir vor der kalten, glitschigen Masse graute.“
„Und? Hast du irgendwann das Haus noch einmal betreten?“ Carla wartet immer noch auf eine Sensation.
„Nein. Ich ging dann weg, in die Stadt, und kam viele Jahre nicht zurück. Bei einem meiner seltenen Besuche bemerkte ich, dass der angebaute Schuppen abgerissen worden war. Das Dach war schadhaft geworden und die Winterstürme hatten das Gebäude teilweise abgedeckt. Also musste es beseitigt werden – wegen der Einsturzgefahr. Aber das Haus selbst stand immer noch. Die Stelle, wo der Schuppen fehlte, war weiß gekalkt, es sah aus wie eine riesige offene Wunde, die langsam verschorfte, als sich auch hier in den Ritzen und Sprüngen Pflanzen ansiedelten.
Niemand hatte mehr den Abfluss des Troges gesäubert, also war das Wasser übergeflossen und teilweise in das Haus eingedrungen. Die feuchten Flecken auf den Mauern zeugten davon.
Es sah erbärmlich aus, so gut wie tot.“
„Hat die Familie niemals versucht, es wenigstens instandzusetzen oder zu verkaufen?“ Jonas ist ein praktisch denkender Mensch.
„Nein. Ein Verkauf kam für sie nicht in Frage. Es gehörte zur Familie. Aber sie brauchten es auch nicht. Sie hatten noch die Fabrik mit einem weiteren Wohngebäude. Und mittlerweile wäre eine Instandsetzung nicht mehr zu bezahlen gewesen. So luxuriös es am Anfang gebaut worden war, so rückständig war es jetzt. Es gab nicht einmal eine Wasserleitung im Haus, geschweige denn eine Heizung.“
„Es war also überflüssig? Eine Geldanlage, die sich als Fehlinvestition herausgestellt hat? Wohl ein ziemlicher Verlust. Schade.“ Jonas betrachtet nachdenklich sein Weinglas.
„Ja. Manchmal fügt es sich seltsam. Sie hatten wohl doch noch mit Nachkommen gerechnet oder dass eines der Kinder das Haus übernehmen würde. Aber daraus wurde nie etwas.“
„Warum nicht?“ Carla lächelt mich an. „Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.“ Täusche ich mich oder schwingt in ihrer Stimme wirklich ein zärtlicher Unterton? Nein, das muss wohl die Wirkung des Alkohols sein. Wir haben wirklich ein bisschen zu viel getrunken. „Das ist jetzt vielleicht doch eine Geschichte nach deinem Geschmack“, sage ich zu ihr, um mich selbst abzulenken. Im gleichen Moment bereue ich das Gesagte. Eigentlich mag ich dieses Gerede nicht, aber jetzt ist es zu spät.
„Angeblich liegt so etwas wie ein Fluch auf der Familie. Meine Mutter behauptete das immer.“
„Ein Fluch?“ Carla sieht mich gespannt an. Ja, das gefällt ihr.
Ich nehme noch einen Schluck Wein. Es ist Weißwein und er ist warm geworden.
„Die Familie A. war, wie bereits erwähnt, ziemlich einflussreich und gut situiert. Der damalige Besitzer der Fabrik soll einen seiner Brüder um das Vermögen gebracht haben. Als ihn die mittellose Witwe um Unterstützung bat, verweigerte er sie ihr und sie verfluchte ihn dafür. Es solle keine Nachkommen mehr geben, welche die Fabrik weiterführen und der ganze Besitz solle in fremde Hände gelangen. Dies geschah in der nächsten Generation tatsächlich. Obwohl es vier Kinder gab, ging kein Nachwuchs hervor. Ein Sohn starb bereits im Kindesalter, der andere wurde auch Priester, eine Tochter blieb ledig und die älteste heiratete einen zeugungsunfähigen Mann. Zufall oder nicht, wer weiß das schon?“
Carla schüttelt sich. „Wie unheimlich!“
„Manches ist schon seltsam“, sagt Jonas. Seine Blicke schweifen zwischen mir und Carla hin und her. Dann lächelt er. „Was in Familien so geschieht.“
„ Was geschah dann?“ Carla gießt den letzten Rest aus der Flasche, nippt am Glas, schüttelt sich. „Der Wein ist viel zu warm. Aber das macht nichts. Erzähl weiter.“
Ich muss lächeln. „Es geschah etwas Merkwürdiges.
Eines Tages hat sich die Familie doch entschlossen, das Haus abreißen zu lassen. Es war zu einer Gefahr für die Passanten geworden. Jederzeit konnte sich ein Mauerbruchstück lösen und auf den Gehsteig fallen. Die Maschinen standen bereit, das Dach war bereits abgetragen worden. Da kam ein Anruf, dass jemand das Haus gekauft habe und es solle sofort der Abriss gestoppt werden.“
„Ehrlich?“ Carla und Jonas sehen mich ungläubig an.
„Ja, doch, so war es. Ein Unternehmer, der eine Vorliebe für alte Häuser hat, bemerkte das Gebäude zufällig bei der Durchreise, es hat ihm gefallen und er wollte es haben. Eigentlich unverständlich, denn es sah schon lange erbärmlich aus und die Lage ist ganz und gar nicht attraktiv.“
„Es hat ihn angelockt, oder? Es muss sich ihm mitgeteilt haben.“ Carlas Augen leuchten vor Begeisterung.
Jonas grinst. „Dein Sinn für Dramatik in Ehren. Aber glaubst du das wirklich?“
Sie sieht mich an, als wolle sie mich um Unterstützung bitten.
Ich zucke mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Es klingt schon abstrus, aber …“
Sie wedelt ungeduldig mit der Hand. „Erzähl weiter.“
„Einige Monate stand dann das Haus einfach nur so da, es geschah nichts. Die Dachwunde war mit Plastikplanen abgedeckt worden, um die ärgsten Niederschläge abzuhalten. Eine überflüssige Maßnahme, wie ich fand, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Mauern noch intakt sein konnten. Eigentlich hätte alles zusammenbrechen müssen.
Aber als ich eines Tages wieder einmal meinen Heimatort besuchte, staunte ich nicht schlecht: Das Haus hatte ein neues Dach bekommen. Ein funkelnagelneues Eternitdach. Das Gebäude wird nicht genutzt, ich habe keine Ahnung, was damit geschehen soll, aber es existiert noch.“
Ich lächle Carla an. „Also ja, um deine Frage zu beantworten. Ich würde sagen, vielleicht nicht alle, aber bestimmte Häuser haben so etwas wie ein Leben, so merkwürdig das auch klingen mag. Ihr solltet es euch vielleicht ansehen, damit ihr wisst, was ich meine. Mit seinem neuen Dach wirkt es tatsächlich, als wäre es stolz darauf, dass es noch immer steht und dass es sich nicht unterkriegen lassen hat.“
Schweigen breitet sich zwischen uns aus.
„Ich wusste gar nicht, dass du so sensibel sein kannst“, meint Carla schließlich.
Mir wird heiß unter ihrem Blick und ich lächle verlegen. „Ich auch nicht.“
Carla sieht mich noch immer an und atmet tief durch. „Möchtest du mich wiedersehen?“
„Äh, ja, natürlich. Wir treffen uns ja demnächst …“
Sie unterbricht mich mit einem ungeduldigen Wedeln der Hand. „Nein, das meine ich nicht. Morgen. Oder vielmehr übermorgen.“
„Nur wir beide?“ Der Alkohol hat wohl auch mein Denken vernebelt. Ein Schatten huscht kurz über ihr Gesicht. „Natürlich nur, wenn du wirklich willst.“
Jonas hebt sein Weinglas und grinst. „Ich wusste schon immer, dass ihr beiden … Sag doch einfach ja, alter Junge!“
Ich muss lachen. „Aber ja. Ja, doch. Sicher. Gerne!“

Karin Kehrer
geb. 1964, wohnhaft in Rohrbach/OÖ. Fasziniert von der Erschaffung eigener Welten und dem Spiel mit dem Unbekannten, Unheimlichen schreibe ich vorwiegend Horror- und Fantasy-Geschichten und beschäftige mich mit Sagenstoff und Begebenheiten aus dem Mühlviertel. Veröffentlichungen von Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien, z.B. „Ganz schön bissig …“, eine Sammlung von Vampirgeschichten und „Rastlose Seelen“, Geistergeschichten, beide erschienen im Schreiblust-Verlag, Dortmund. Derzeit bin ich auf der Suche nach einem Verlag für einen Fantasy- und einen Mystery-Roman.
Homepage: http://www.karinkehrer.com/
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