facetten 2011 linz

Lothar Schultes: Kurzgeschichten & Miniaturen

Das Geschenk
Sie hatte es in der Auslage entdeckt und sich gleich vorzustellen begonnen, wie entzückend die Kleine darin aussehen würde. Nein, es war nichts, womit Großmütter vielleicht sonst ihre Enkel zu beglücken pflegen, sondern etwas ganz und gar Modernes, etwas, das „total cool“ war und mit dem man wirklich auf Nummer sicher gehen konnte. Als sie mit den eingepackten Sachen auf die Straße heraustrat, war sie erstmals nach langer Zeit wieder richtig glücklich.
Und um das Ihre dazu beizutragen,  schien auch noch die Sonne warm und hell und gab der Straße ein fast südliches Flair. Es war nicht schwer, sich die Freude der Kleinen vorzustellen, wenn sie die Sachen auspackte.... Hier begann sie zu stocken. Ihr Lächeln, mit dem sie das Geschäft verlassen hatte, schien wie festgefroren. Würden sie denn diesmal auch wirklich zum Geburtstag kommen?
Bei dem Gedanken begann sich ihr Herz zusammenzukrampfen. Was, wenn Sohn und Schwiegertochter gar nicht kämen und sie nichts, nein gar nichts von der Freude der Kleinen hätte? Sie versuchte, diese dunklen Gedanken so schnell wie möglich zu verscheuchen: Nein, diesmal hatte sie doch schon so lange auf ein Wiedersehen warten müssen, diesmal mussten sie doch einfach kommen, oder?
Als sie anrief, war ihr Sohn am Telefon. Ja, es ginge ihnen gut, hieß es, und sie hätten einander ja schon so lange nicht gesehen, und natürlich würden sie mit der Kleinen kommen. Ein Geschenk?... das wäre doch nicht notwendig gewesen ... aber wenn sie es schon besorgt hätte...
Die nächsten Tage verbrachte sie mit dem Aufräumen des Hauses und mit dem Einkaufen für das Kochen. Früher, als ihr Sohn noch allein kam, war es leicht, da wusste sie, was sein Lieblingsessen war, aber jetzt, wo er mit Familie kam…. Aber diesmal hatte sie ja eigens nachgefragt, und so durfte ja wohl nichts passieren.
Als das Auto mit den Gästen vorfuhr, war sie  mit allem fertig. Von der Freude auf das Wiedersehen, vor allem aber von der vielen Arbeit war ihr Gesicht ganz gerötet, und ihr Herz pochte wild. Als sie ihr Enkelkind sah, konnte sie nicht anders als loszulaufen und es zu sich hochzuheben und abzuküssen. Wie die Kleine seit dem letzten Wiedersehen gewachsen war! Hoffentlich würden ihr die neuen Sachen überhaupt noch passen, durchfuhr es sie mit Schrecken. Aber sie vergaß es gleich wieder, denn ihr Sohn hatte ihr Blumen mitgebracht, ihre Lieblingsblumen noch dazu! Er war ja doch ein gutes Kind.....
Heute schien überhaupt alles gut zu werden. Das Essen hatte allen geschmeckt, und sie hatten so viel erzählt, und die Kleine hatte munter drauf los geplaudert und war so lieb, so lieb! Nun fand sie den Zeitpunkt für gekommen, das Geschenk aus dem Zimmer nebenan zu holen. Schnell war es ausgepackt....
Am Blick, den Sohn und Schwiegertochter miteinander wechselten, merkte sie gleich, was es geschlagen hatte. Sie spürte, dass sich alles zu drehen begann und sie sich setzen musste. Als es etwas besser wurde, schluckte sie in der Küche eine jener Tabletten, die ihr der Arzt für den Notfall verschrieben hatte. Sohn und Schwiegertochter hatten sich inzwischen verständigt. Er versuchte, es seiner Mutter möglichst schonend beizubringen, aber sie hörte kaum, was er sagte. Irgendetwas von leid tun und umtauschen und nicht böse sein.....Schweigend nahm sie die Sachen und brachte sie ins Nebenzimmer.
Sie nahm alle Kraft zusammen, um sich nichts anmerken zu lassen. Sie wollte sich ja nicht selbst die Freude verderben, wo diese Besuche doch etwas so Seltenes waren....
Irgendwie schaffte sie es, und beim Abschied gelang ihr sogar noch ein kleines Lächeln. Erst als der Wagen nicht mehr zu sehen war, fuhr sie mit den Fingern zum Mund und begann hastig, ihre Nägel abzubeißen, bis es blutete.

Der Dichter
Seit seiner Schulzeit führte er ein kleines Heftchen, in das er alle seine Einfälle notierte. Mit den Jahren wuchs so eine kleine Sammlung von Geschichten heran. Sie waren zugegebenermaßen anfangs etwas holprig, dann aber wurde er immer sicherer und er fand, dass sie eigentlich auch für andere interessant sein könnten. Das gab ihm Mut, das eine oder andere Werk einzureichen. Doch jedes Mal erhielt er ein kurzes Schreiben mit dem Vermerk zurück, dass die Jury sich leider nicht entschließen konnte, seine Texte anzunehmen. Manchmal wollte man nett sein und fügte noch hinzu, dass er sich trotzdem weiter bewerben solle.
Die Enttäuschung tat weh, so weh, dass er eine Zeit lang überhaupt nicht mehr schreiben konnte. Erst Jahre später hatte er wieder die Kraft für einen Neubeginn. Die Unterbrechung tat seinen Arbeiten, wie er meinte, gut. Was er zuvor geschrieben hatte, erschien ihm nun schwach und uninteressant, und er begann die Juroren zu verstehen, die seine früheren Texte für nicht veröffentlichenswert hielten.
Mehrmals dachte er daran, neuerlich Arbeiten einzusenden, aber die Angst vor weiteren Enttäuschungen gewann die Oberhand. So schrieb er von nun an nur noch für sich allein. Was blieb, war eine Art Sehnsucht, die ihn  sein ganzes weiteres Leben begleitete – nicht nach Anerkennung, sondern nach Sinn. Sein Schreiben sollte einen Sinn haben, sollte andere Menschen erreichen, sie rühren, bewegen, ihnen etwas geben, das nur er allein ihnen zu geben vermochte. Aber sein beruflicher Erfolg entschädigte ihn und ließ ihn schließlich seine eigentliche große Liebe fast vergessen.
Erst als er erfahren hatte, was der dunkle Fleck auf seinem Röntgenbild bedeutete, änderte sich alles schlagartig. Wie im Rausch begann er wieder zu schreiben, und die Ideen schienen wie Wogen über ihn hereinzubrechen. Sogar während der kurzen Pausen, die ihm der Arzt dringend gebot, ließen die Gedanken nicht von ihm los, und kaum hatte er den Laptop wieder vor sich, flogen die Finger wieder über die Tastatur.
Er wusste, dass ihm die Zeit davonlief. Schon nach wenigen Monaten war es ihm kaum noch möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Mühsam rang er nach Formulierungen, und nur stockend reihte sich Wort an Wort. Als er am Ende war kamen die ersten Reaktionen der Verlage, an die seine Freunde die Texte heimlich geschickt hatten. Jetzt auf einmal wollten alle seine Geschichten haben, und einer bot ihm sogar einen Vertrag für alle künftigen Werke an. Er hätte wie kein anderer den Nerv der Zeit getroffen, hieß es. Eindringlich und berührend spreche er all das an, was Menschen heute bewege....
Als der Sarg hinabgelassen wurde, lag zwischen den vielen Blumen ein handgebundenes Buch: das erste Exemplar seiner Erzählungen.

Die Engel
Eben hatte er ihn vom Restaurator gebracht. Gespannt löste er die Klebestreifen von der Noppenfolie, in die der Engel zum Schutz verpackt war. Zuerst kamen die Flügel zum Vorschein,  dann der Körper und schließlich das Gesicht. Ja, es war ganz, wie er es sich erhofft hatte. Er hatte sich nicht getäuscht: was beim Kauf schmutzig und hässlich aussah, hatte sich als Meisterwerk entpuppt. Nun war seine Engel-Sammlung komplett, und tatsächlich, es war in der Wohnung kein Platz mehr frei, wo er eine Figur hätte unterbringen können. An den Wänden, auf den Sockeln und Tischchen, auf der Anrichte, auf den Kästen, überall hingen, standen oder saßen Engel in allen Größen, sorgfältig arrangiert, wie in einem Museum. Schon am Morgen grüßten sie ihn freundlich lächelnd, und am Abend verabschiedeten sie sich mit ihrem feines Lachen.
Als er sie kennen lernte, hatten sie sich immer in einem Lokal und später dann bei ihr getroffen. Erst nach Monaten wagte er es, sie zu sich einzuladen. Als er sie ins Wohnzimmer führte, spürte sie gleich, dass da eine Kraft war, die ihn ganz gefangen nahm und kaum noch Raum für etwas Anderes ließ. Die ganze Zeit hatte sie das Gefühl, von den Engeln beäugt zu werden. Es gab kein Entfliehen: sie waren überall, in jedem Raum, in jeder Ecke. Kaum machte sie eine Türe auf, starrte ihr ein Gesicht entgegen, nirgends war sie vor ihren Blicken sicher. Sie spürte, wie sich ihre Abneigung bei jedem Besuch steigerte. Alles in ihr krampfte sich zusammen, noch bevor sie die Wohnung betrat. Beim Essen brachte sie kaum einen Bissen herunter, und im Bett war alles nur noch eine Katastrophe. Oft war sie nahe daran, ihre Schuhe oder sonst einen Gegenstand nach einem der grinsenden Gesichter zu werfen. Schließlich kaufte sie ein paar Meter Stoff, schnitt ihn in Stücke und begann jeden der Engel einzeln zuzudecken. Sie war fast fertig, als er nach Hause kam. Für Minuten stand er sprachlos da, ehe er sich auf sie stürzte. Als sie regungslos am Boden lag, begann er liebevoll und sorgfältig die Engel wieder auszupacken.

Lust
Obwohl sie nun schon so lange verheiratet waren, gab es immer noch Augenblicke, in denen er sie so heftig begehrte wie ganz zu Beginn ihrer Ehe. Natürlich waren diese Momente viel seltener als früher, und doch genügte manchmal ein kleiner Auslöser, um ihm das Gefühl zu geben, immer noch fünfundzwanzig zu sein. Er war dann in einer Art Ekstase, die ihn glauben ließ, auch sie sei immer noch so verliebt wie damals. Immer, wenn er diese Anfälle hatte, blieb ihr nichts anderes übrig als geduldig zu warten, bis sie vorbei waren.



Stress
Die letzten Tage waren für ihn mehr als anstrengend gewesen und es war am Abend oft sehr spät geworden. Meist schlief sie schon, wenn er  dann endlich todmüde ins Bett fiel. Sie hatte sich immer wieder darüber beklagt, dass sie eigentlich keinen Mann mehr hätte. Diesmal aber gelang es ihm, vor ihr daheim zu sein. Er besorgte Blumen, deckte den Tisch und bereitete das Abendessen vor. Nach dem Duschen nahm er das Parfum, das sie so gerne hatte und zog die Hose an, in der sie ihn so sexy fand. Er war schon lange fertig, als sie endlich kam – streichfähig, wie sie sich ausdrückte. Ihr Chef sei wieder einmal völlig unmöglich gewesen, und die Besprechungen hätten ewig gedauert. Sie lud erst einmal ihren ganzen Frust ab, ehe sie die Blumen bemerkte.  Zu mehr als einem „Lieb von Dir“ war sie nicht mehr fähig, ehe sie ins Bett taumelte und sofort einschlief.

In der Cafeteria
Als er Platz nahm, sah er zu seiner Freude, dass sie Dienst hatte. Gleich würde sie auf ihn zukommen und ihn anlächeln. Und so wie jedes Mal würde er einen Capuccino bestellen, und ein paar Minuten später würde sie lächelnd mit dem Kaffee wiederkommen und wie jedes Mal würde er überlegen, ob er sie nicht bitten sollte, das alles hier stehen zu lassen und mit ihm zu kommen. Doch wie jedes Mal würde er es nicht über sich bringen und zu seiner Familie ins Hotel zurückkehren und so tun, als ob nichts gewesen wäre.

Der Abgrund
Sie waren mit der Seilbahn herauf gefahren und lange wortlos nebeneinander gesessen, als sie ihn fragte, ob er sie liebe. Er hatte genickt und sie hatte den Arm um ihn gelegt. Von da an waren sie jedes Jahr wieder gekommen, und hatten schweigend in den Abgrund gesehen. Jedes Mal waren sie ihnen ein bisschen schwerer gefallen, die paar hundert Meter von der Bergstation zu „ihrem“ Felsen. Bis sie dann eines Sommers den Weg allein zu gehen hatte. Als sie endlich über dem Abgrund angelangt war, war niemand mehr da, der ihren Fall hätte hindern können.

Der achte Tag
Am achten Tag merkte Gott, was alles schief gegangen war. Die Erde, die er so perfekt geplant hatte, ächzte und bebte. Bergstürze, Flutwellen und Katastrophen aller Art ließen Menschen und Tiere elend zugrunde gehen. Unter den Überlebenden brachen Kriege, Hungersnöte, Krankheiten und Seuchen aus. Und seine Geschöpfe klagten und stöhnten vor Leid, statt ihn zu loben. Als er sah, was er angerichtet hatte, wurde Gott sehr traurig, und er hatte so großes Mitleid mit den Menschen, dass er nicht anders konnte, als selbst einer von ihnen zu werden.

Der Fund
Es war ein unförmiger Klumpen,
den sie fanden, voll Kot und Dreck,
Übelriechend und ekelerregend.
Sie arbeiteten schwer, bis sie ihn
weg bekamen, den stinkenden Schmutz.
Und als sie alles abgewaschen hatten,
da erschien unleserlich und entstellt,
doch dann immer klarer und deutlicher
ein Wort: HEIMAT.

Noch
Noch war ihm der Sprung mit dem Skateboard perfekt gelungen
Noch hatten ihm die Mädels zugejubelt und applaudiert
Noch waren sie laut und fröhlich durch die Straßen gezogen
Noch hatten sie in den Lokalen voll Übermut getrunken und getanzt
Noch hatte er keine dieser Tabletten gebraucht, um in Fahrt zu kommen
Noch hatte er keine Gedanken an seine Zukunft verschwendet
Noch hatte der Arzt es nicht gewagt, ihm die Wahrheit zu sagen.

Bald
Bald würde er die Einfahrt zur Tiefgarage erreicht haben
Bald würde er mit dem Lift in die Wohnung hinauf fahren
Bald würde er mit den Blumen vor der Türe stehen
Bald würde sie ihm öffnen und ihn ohne Worte umarmen
Bald würden sie sich an den gedeckten Tisch setzen
Bald würde sie auf ihre gemeinsame Zukunft anstoßen
Bald würde er ihr die Wahrheit sagen müssen.

Halbwegs
Für seine Eltern war er ein halbwegs guter Sohn
Für seine Lehrer war er ein halbwegs guter Schüler
Für seinen Chef war er ein halbwegs guter Mitarbeiter
Für seine Frau war er ein halbwegs guter Ehemann
Für seine Kinder war er ein halbwegs guter Vater
Für die Kirche war er ein halbwegs guter Christ
Für die Sargträger war er eine halbwegs tragbare Last

Das Jubelpaar

Fünfzig Jahre hatten sie durchgehalten
Fünfzig Jahre hatten sie gemeinsam geschuftet
Fünfzig Jahre hatten sie eisern gespart
Fünfzig Jahre hatten sie sich nichts gegönnt
Fünfzig Jahre waren sie beisammen geblieben
Fünfzig Jahre hatten sie einander ertragen
Fünfzig Jahre hatten sie einander vor der Liebe
bewahrt

Schrei!

Schrei so laut du kannst
und drisch die Türe zu!
Schlag mir ins Gesicht
und tritt wohin du willst
damit ich dich endlich liebe!

Irgendwann
Irgendwann werdet ihr meine Bilder sehen wollen
Irgendwann werden euch meine Geschichten interessieren
Irgendwann wird es euch leid tun, dass ihr mich nicht gekannt habt

Die tote Dichterin
Dem Leib nach eine von uns
Warst Du oft oben über den Sternen
Eh Dich Dein Himmel für immer behielt


Lothar Schultes
Geboren 1955 in Mistelbach. Studium der Bildhauerei in der Meisterklasse Wander Bertoni an der Akademie für angewandte Kunst sowie der Kunstgeschichte und Archäologie an der Universität in Wien. 1979-81 Studienassistent. 1983/84 an der Österreichischen Galerie Belvedere, anschließend Lehrer an der Höheren Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien. Seit 1985 am Oberösterreichischen Landesmuseum in Linz, derzeit Leiter der Abteilung Kunstgeschichte. 1989/90 und 2005/06 Lehrtätigkeit an der Universität Graz. 1995-2002 Lehrauftrag für Kunstgeschichte des Mittelalters an der Kunstuniversität in Linz. Zahlreiche Ausstellungen und Publikationen zur Kunst vom Mittelalter bis zum frühen 20. Jahrhundert. 2002 Leiter des landesweiten Projekts „Gotik Schätze Oberösterreich“. Maßgebend an der Neukonzeption des Linzer Schlossmuseums beteiligt. Mitarbeiter an der „Geschichte der bildenden Kunst in Österreich“, am Dictionary of Art, am Allgemeinen Künstlerlexikon und am Oberösterreich-Archiv. Künstler und Autor. Letzte Ausstellung: „Von Alt bis Schiele“ im Linzer Schlossmuseum. Nächstes Ausstellungsprojekt (mit Johannes Ramharter): „Die Kulturhauptstadt des Kaisers“ (2012 im Linzer Schlossmuseum). Erste (und letzte) Beteiligung an den „Facetten“: 2005. Nächstes Buch: „Lieben Sie Linz?“ (Präsentation am 12. November 2011 im Linzer Schloss). Derzeit in Arbeit: „Wie man richtig lacht“.
Website: http://de.wikipedia.org/wiki/Lothar_Schultes

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