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Werner Höller: Kassians Bedenken

Kassian hatte Bedenken. Das war so seine Art. Zu jeglichen Dingen, und vor allem vor Entscheidungen die er zu treffen hatte, allerhand Überlegungen anzustellen. Obwohl es ihm nicht immer bewusst zu sein schien, ließen sich die Argumente in mehrere Kategorien einteilen. Schnellig- und Festigkeit der Entschlüsse wurden durch die Einordnung nicht beeinflusst. Sie hießen:
- Für und Wider
- Was die Leute denken
- Würde ich Gestern ebenso entschieden haben bzw. Morgen entscheiden
- Mischformen
„Jeder Mensch soll ordentlich nachdenken, bevor er eine Dummheit macht. Ein alter Mann wie ich erst recht“, gab Kassian von sich. Nun hatte er doch größere Bedenken, jedoch noch keine Zweifel. Nicht, dass er grundsätzlich gegen eine anderwärtige Nutzung der Räumlichkeiten gewesen wäre. Im Gegenteil. Es wäre ihm Recht gewesen, überhaupt wieder Leben in den ehrwürdigen Halle zu wissen; Menschen, die dort eine Aufgabe zu erfüllen hatten. Die Mauern sollten wieder Gleichgesinnte verschiedenster Herkunft, alt und jung umfangen. Das Licht, das hoch oben so gelenkig einfiel, sollte den Blick auf das Wesentliche freigeben oder zumindest etwas wie Heimat vermitteln. Eine Wiederbelebung, im ursprünglichen Sinn wäre wünschenswert, aber niemand der halbwegs realistisch war, glaubte daran. Viele belächelten den Wunsch.
Es war offensichtlich, dass der gesamte Baukomplex nicht entsprechend genutzt werden konnte. Ganz am Anfang des Betriebes schon, aber heute? Das Hauptgebäude, ein Saalbau mit ovalem Grundriss, stand bereits jahrelang ungenutzt leer. Die Nebengebäude, architektonisch stimmig angefügt, ebenso längst verlassen.
Von einer wirtschaftlichen Nutzung konnte keine Rede mehr sein. Einen Verkauf lehnten die Eigentümer jedoch bisher kategorisch ab. Ständig wurde über Finanzen geredet, immer schleierhaft; eine wirkliche Misere, die zum Abstoß der Immobilie gezwungen hätte, lag scheinbar nicht vor.

Die Räume boten ausgezeichnete Akustik. Ein ideales Probelokal für Musiker, oder als Tonstudio bestens geeignet. Mehrere Inserate in der lokalen Presse erzeugten geringes Echo. Es gab keine unmittelbar angrenzenden Nachbarn, die sich etwa durch die Lautstärke von Mikrophonen oder lange, nächtliche Probezeiten, hätten gestört fühlen können. Ein Werksorchester nutze das Haus etwa ein halbes Jahr. Gewünschte, geringfügige Umbaumaßnahmen wurden von Seiten des Vermieters derart verkompliziert, dass es zum Bruch kam. Später nutzen ein Teppichhändler, dann eine Reinigungsfirma die Gebäude als Lager. Eine Hotelkette zog sich nach ein, zwei Gesprächen wieder diskret zurück. Die Stadtbibliothek, dachte zunächst an die Errichtung einer Zweigstelle, ließ    die Idee einer weiteren Dependance aber rasch wieder fallen. Die Nutzung durch einen Orgelbauer schien realistisch. Nachdem die Firmennachfolge seinerseits nicht gelöst werden konnte, verlor sich auch diese Möglichkeit. Fabriksverkauf und dergleichen kamen als Mieter nicht in Frage. Zuletzt war eine junge Künstlergruppe, nach Vertragsende wieder ausgezogen. Niemand wollte verlängern. Der Zustand des Bauwerks verschlechterte sich seither zunehmend. Der Abriss war in mancher Munde.
Seinerzeit, Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, war die Kirche ein katholisches Vorzeigeprojekt. Das renommierte Architektenbüro Lehnert & Rosenbaum hatte den Direktauftrag bekommen. Weg vom städtischen Ballungsraum war die Devise. Der selbstbewusste Bau, in einer ursprünglichen Wiesenlandschaft, spiegelte Zeitgeist und Selbstverständnis. Dominant, fast 20 Meter in die Höhe ragend, elliptischer Grundriss. Überhaupt die ganze Pfarrgemeinde galt als Muster der gelebten Basisdemokratie. Kassian hatte seinen Schuldienst an einem traditionsreichen Gymnasium quittieren müssen. Seither lag seine Aufgabe hier. Zeitweise wohnte er auswärts.



„Heimische Lärche bedeutet Wachstum. Mauthausner Granit steht für Beständigkeit. Und der unverputzte Ziegel ist … ist einfach schön“, donnerte  während der Kirchweihe, der volksnahe Bischof über die Christenschar hinweg. „Passt mir auf diese Kirche -und die Heilige Römische Kirche besonders gut auf,“ rief er dem feierlich gestimmten Gottesvolk zu. Kassian, zu jener Zeit kein ganz junger Priester mehr, schmunzelte in sich hinein. Er dachte: „Römische Kirchen sind doch noch nie wirklich ganz irgendwohin verschwunden“. Vielen ein unvergesslicher Tag. Rund um das Gotteshaus plante man einen neuen Ortsteil. Aus den Einfamilienhäusern, Jugendzentren, Kindergärten hätten die Säulen der christlichen Gemeinde erwachsen sollen. Die Infrastruktur misslang. Die Saat brachte wenig Frucht. Der Kirchenbesuch stagnierte bald und ging dann stetig weiter zurück. Kassian und die seinen ruderten mit Kraft dagegen. Nach der vierten Kirchenaustrittswelle, waren die finanzielle und vor allem die personelle Verschuldung derart hoch, dass der Kirchenrat eine dauerhafte Lösung verlangte. Kassian, der eigentlich Otto Kassian hieß, und sich längst hätte in den Ruhestand versetzten lassen können arbeitete weiter, mit und für die Menschen seiner Gemeinde. Alles hing an ihm; konnte nur durch ihn bestehen und letztlich mit ihm fallen. Bei den Predigtvorbereitungen blieb er wieder an einer Schriftstelle hängen: Kohelet 2,19 „Jedenfalls wird er über meinen ganzen Besitz verfügen, für den ich mich unter der Sonne angestrengt und mein Wissen eingesetzt habe. Auch das ist Windhauch.“
Kassain hatte zunächst Bedenken, gegen die sich nun bietende Lösung. Jener Hochsommertag versprach einen heißen, lange ausdehnbaren Nachmittag. Die Menschen sehnten sich nach kühlen Getränke und leichten Gesprächsthemen, um auch die laue Nacht angenehm draußen verbringen zu können. Der Sterne hatte in der vergangener Nacht wieder hell geleuchtet. Herr Idriz Bekir bat um eine Unterredung. Er war in Begleitung eines Kaufmanns namens Karim Mas‘ud. Mehr hatte Kassian zunächst nicht von seinen Besuchern erfahren. Das Gespräch verlief in angenehmer Stimmung, in perfektem Deutsch. Man kam zur Sache. Die Herren wollten Kirche und Nebengebäude erwerben.

Kassian überraschte das nicht. Er hatte gelesen, dass in Köln und Berlin bereits vor Jahren Kirchen an islamische Gemeinden verkauft worden waren. Jedoch Häuser evangelikaler Gemeinschaften. Für einen Augenblick leuchtete die Vorstellung eines wiederbelebten, gläubigen Lebens auf dem Kirchplatz auf. Die Herren boten 1,2 Millionen Euro. Später ging das Gerücht Herr Mas‘ud hätte das Geld bar  in einem Koffer mitgehabt. Statt sich zu beraten oder beraten zu lassen; Baupläne zu zeigen und Begehungen vorzuschlagen, stimmte der Priester dem Angebot sofort zu. Per Handschlag. Warum er das getan hatte, wurde er tausende Male gefragt. Immer kam dieselbe ruhige Antwort Kassians: „Meine Bedenken waren verschwunden, ein stimmiges Gefühl gemahnte zur Entscheidung. Die Kirche ist säkularisiert.“
Die Stürme brachen nun los. Am heftigsten war der mediale. Ein kleinformatiges Blatt titelteHagia Sophia in Österreich.‘ ‚Kebab kauft Kirche‘, und ‚Halbmond statt Heimat‘ schrieben zwei lokale Blätter auf ihre Frontseite. Die Kirchenzeitungen bediente sich wiederholt des Vergleiches mit der Figur des Judas Iskarioth und griff den Geistlichen dadurch am allerschärfsten persönlich an. Eine Gruppe strengster Katholiken kettete sich an Gebäudeteile der Kirche und besetzte zeitweise den Kirchenvorplatz. Der Polizeidirektion lagen Hinweise vor, dass der Turm, kurz nach Unterzeichnung des Kaufvertrags in die Luft hätte gesprengt werden sollen. Anfangs gab es zahlreiche Beschimpfungen der Kirche insgesamt. Morddrohungen gegen Kassian waren selten. Beiläufig war aber auch von Heuchelei die Rede, denn die religiösen Gefühle, die jetzt verletzt schienen, waren doch gar nicht mehr vorhanden oder ausgeborgt. Angst und Ärger machten sich allemal breit. Alle europäischen Fernsehsender fanden sich ein. Die Presse interessierte sich auch für die Geschichte des Käufers, in zahllosen Berichten und Dokumentationen. In den Nachrichten wurde von einem Kaufrücktritt gesprochen, was aber nicht stimmte. Rom zitierte. Weil Kassian mehrmals eindringlich und persönlich von den Präfekten der Klerus-, sowie der Glaubenskongregation befragt wurde, blieb er zwei Wochen in der ewigen Stadt. Immer wieder hatte er denselben Traum. Ein winziger Windhauch bringt ein riesiges Kartenhaus zum Einsturz. Der Druck auf die Kirchenleute war enorm. Die weltweite mediale Resonanz ebenso.

Nach wenigen Wochen war es wieder ruhig geworden, um die ehemalige Kirche zum Guten Hirten. Vertragsunterzeichnung, Finanztransfer und die ersten Umbauarbeiten liefen planmäßig. Zunächst wurde das sechs Meter hohe Turmkreuz abgenommen. Kassian hatte mit dem Abtransport seines persönlichen Besitzes bis zuletzt gewartet. Dabei war ihm ein kleines Büchlein mit Sonetten von Andreas Gryphius in die Hände gefallen. Er las nur eine Strophe und legte es dann vorsichtig bei Seite.

Du sihst / wohin du sihst, nur eitelkeit auff erden.
Was dieser heute bawt / reist jener morgen ein:
Wo itzund städte stehn / wird eine wiesen sein,
Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den heerden.
 
Einige Tage später hatten mehrere Spaziergänger, in den Auen etwa vierzehn Kilometer außerhalb der Stadt, einen alten Mann gesehen, der vielleicht schon stundenlang dort am spätherbstlichen Boden gesessen haben mochte. Die Stelle war bekannt, weil dort zwei Flüsse ineinander mündeten. Er atmete kaum und murmelte gebetsmühlenartig immer wieder: „Bedenken, Windhauch, Eitelkeit …“, vor sich hin. Alle Kategorien, in die er früher einzuordnen pflegte, waren aufgelöst. Sein Blick war fern. Alles floss ineinander, ohne Chance ursprünglich wieder zu erstehen.

Werner Höller
Geboren  am 19. März 1968 in Mistelbach/Niederösterreich. Über die Stadt- und die Schulbibliothek die Welt der Bücher erreicht. Erste Gedichte und Kurzgeschichten in der Gymnasialzeit. Intensive Auseinandersetzung mit religiöser Literatur und Lebensform. Ausübung  des Brotberufes  Krankenpfleger und teilweise lyrische Betätigung. Schaffenspause während der Familiengründung. Teilnahme am Fernkurs „Kinder- und Jugendliteratur“ (STUBE). Neuerliche literarische Gehversuche: Kinderbuch, Haikus, Theater. Teilnahme am Literaturstammtisch FederfuchserInnen in Linz. Bisher keine Veröffentlichungen.
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