facetten 2011 linz

Wilhelm Rager: Filmszenen

1

schattenhaft
das Drama des Weltkriegs
dem Kind – vom Himmel stürzende
Flugzeuge, brüllend den Bahn-
hof bombardierend: unter
die hölzernen Bohlen –Montag-
plattform – zum Schutz gerissen
zu werden: oder im Keller
den Einmarsch der Amerikaner
zu erwarten: noch nichts
von allem begreifend:

2

Pubertät

Hauptdarsteller
zu sein in den Melodramen
des Kennenlernens der Liebe:
kafkaesker Drehbücher des
Geschlechts:

3

Verständlich jetzt: die Angst deines Großvaters

verständlich jetzt
die dir damals unver-
ständliche Angst deines
bettlägrigen, zweiund-
achtzigjährigen Groß-
vaters: ich will nicht
sterben: wundgelegen: als
du ihn kurzzeitig betreuen
musstest: als hilflos
und nichts verstehender
Pubertierender mit schlechtem
Gewissen:

4

Bewusstwerden

das Bewusstwerden des
Kindes im Schwarzweißfilm der Nach-
Kriegsjahre: mithelfen zu müssen, als
Kind, Nahrung aufzutreiben: hätten Sie
nicht: in einem besetzten Land zu
leben nach der Katastrophe: mit den
Bruchstücken der Ideologien:
Unverständlichen: der ver-
wirrten Männer:

5

Filmwechsel

und dann ist´s
eines Morgens, als
habe es das bisher
Erlebte nicht gegeben:
Alles bisher Verweigerte
fällt dir ganz selbstver-
ständlich zu: deine
Schwächen sind zu Stärken
geworden: die Menschen
schätzen dich und die
Dinge ergeben sich:
du weißt nicht, was mit
dir geschehen ist: nur:
dass es wirklich geworden
ist und Raum und Zeit
noch stimmen:

6

dem Regen
zuzuhören und zu warten,
bis er aufhört, damit man
im Garten weiter arbeiten
kann: gelassen seine Texte
zu buchstabieren: das Sein
im Kreislauf des Wassers:
des Wachstums: wie es
in den Bäumen tropft: die
winzige Bewegung der
Blätter, wenn sich ein Tropfen
löst: fällt:

7

Friedhofszene

wie viele religiöse
Plattitüden musst du,
Freund, bei deinem Begräbnis
über dich ergehen lassen:
wenn dein Herz, wie die
versammelten Pfarrer
sagen, nach Gott hungrig
war, hättest du dir doch
andere Nahrung suchen
müssen: tot kannst du dich
jetzt nicht verteidigen:

8

Trivialfilm

mir geht´s gut, so
gut wie nie, sagst du ganz
zurecht im Trivialfilm
des Alltäglichen: wie die
anderen auch: und es stimmt
und es stimmt nicht: aber das
ist die Rolle, die sie
von dir erwarten:

9

als ob alle Zeit
verloren gegangen
wäre, die Stille
des Sonntagsmorgens
in den Gärten der
Vorstadt, im Erinnern
des vollen Monds über
dem Überlebenshunger
des unter den Büschen
stöbernden Igels: wie die
Dunkelheit mild tropft,
oder die Angst der Schläfer
in den Häusern:

10

dann wachst du
in dem Film auf, dass du
der letzte deiner Familie
bist: deiner Generation
und derer vor dir: dass du
mit niemandem mehr reden
kannst, von ihnen: owe,
wie sint verswunden: owe:
ein Saurier bist du ge-
worden, lächerlich durch
dein Alter: weil, was immer
du tust, nicht mehr in die
neue Struktur des Seins
passt:
nur: dass du diesen Film
nicht abdrehen kannst:

11

Sterben
bedeutet, dass eines der
Bretter des Malergerüstes
brüchig ist und du durch-
brichst und aus freiem Fall
auf dem Boden der Kirche
aufschlägst:

12

aus welcher
Konzeption vom Sein
die Schmetterlinge stammen,
die das, was in uns vor-
geht, auf den Flügeln
tragen, den Blumen und
der Süße ihres Nektars
vergeschwistert:

13

oder die
Horrorfilme der Jahre des
Verlierens: als die vor uns alle
gingen: du Angst hattest, wenn
das Telefon klingelte: ist heute
Nacht gestorben: ist ins Spital
eingeliefert worden: heute Nacht
ein schwerer: nein, nicht bei Bewusst-
sein: wir bedauern, Ihnen mit-
teilen zu müssen: Lektionen
der Sterblichkeit, deiner vor-
exerziert:

14

wie anders
dir Altem jetzt die
Menschen entgegenkommen:
viele sehen dich wie einen
Vater: andere schauen durch
dich hindurch: als nähmen
sie dich nicht wahr: tun so,
als gäbe es dich nicht: als ob
du schon jetzt aus dem Sein
gefallen wärst:

15

Einsame Frau auf Hof

die Sonne ist
leuchtend hinter den Hügeln
untergegangen, das Dunkelwerden
schwingt von den Bergen
her, bissig ist der Wind aus den
nackten Sternen: aber die einsame
Frau will nicht zu reden aufhören:
wie glücklich sie hier ist, von der
Gnade des Ortes, die alle spüren:
nachts geht sie über das Land
hier, dann ist es schönsten:

16

Schwarze Septembernächte

die schwärzesten
Nächte des Jahres sind
jene des frühen Herbstes,
da der Sommer noch
warm in der Erde liegt wie ein
wohlbehütetes Kind:

17

Die Leben der Kinder sind jetzt unsere Träume

dass sich unsere
größten Wünsche auf
die Kinder beziehen und
nicht mehr auf das
eigene Leben: das heißt
doch, lebendig zu bleiben:
unsere Leben waren
reich genug: wir haben
uns bemüht: tun es
immer noch: aber die
Schicksale der Kinder
sind jetzt außerhalb
unseres Einflusses: dass das
eine einen Platz in der
Welt findet: das andere
sich auf die eigene Kraft
besinnt:

18

Altersnächte

dass dir, im
hellen Schlaf, die Nacht-
seite des Lebens viel länger
vorkommt: bewusster wird
er, voll zerquetschter Bilder,
manchmal lesbar, manch-
mal in einer fremden
Sprache und Logik: aber
die Freude ist´s immer,
unter anderm: der Augen-
blick der Reise:

19

Im jetzigen Film bist du einer, der schreibt

lang schon vorbei
(nur mehr in Träumen auftauchend)
wie eine andere Existenz, dein
Lehrerfilm: die Arbeit mit den Kindern:
das Lernen vom Menschen: von
ihm: von dir selbst: die Sicher-
heit des Geldverdienens: der
eigenen Kinder:
im jetzigen Film kannst du der
sein, der du immer schon sein wolltest:
einer, der schreibt: besessen
vom Nennen: vom Wort: vom
Erfahren in ihm:

20

aber dass noch
Dramatisches kommen wird,
weißt du: letzte Filme
werden es sein und ihre eigenen
bitteren Drehbücher haben, und
du wirst deine Rolle spielen, bis
sie aufhört:

Wilhelm Rager
geboren am 14. 11. 1941 in Vöcklamarkt, Oberösterreich. Gymnasium in  Salzburg und Vöcklabruck, 1959 Matura in Vöcklabruck, anschließend Studium der Germanistik und Anglistik an der Universität Wien, Lehramtsprüfung für Deutsch und Englisch und Arbeit an nicht abgeschlossener Dissertation über die Dialogliteratur der Barockzeit (Prof. Welzig), daneben damals noch nicht publizierte literarische Produktion (Lyrik und Prosa).
Von 1969 bis 2000 als AHS-Lehrer am Gymnasium Schärding am Inn tätig. Seit 2000 im Ruhestand. Verheiratet mit der Malerin Sonja Krünes-Rager, zwei Kinder. Neben der täglichen Arbeit im Bereich der Lyrik - Auseinandersetzung mit Erleben der Natur, aber auch meditative oder sich mit dem menschlichen Dasein im Allgemeinen beschäftigende Texte - intensives Engagement (Feldbegehungen) bei der Erforschung der Ur- und Frühgeschichte des Unteren Innviertels, in Zusammenarbeit mit dem Bundesdenkmalamt.
Publikationen
Buchpublikationen: „Vor der großen Stille“, Lyrik, Verlag edition linz, Bibliothek der Provinz, 1999. „Katzenleben. Leben mit Katzen“, lyrische Texte, edition innsalz,  2004.
Lyrik in "Meridiane" , 1996,  "Schreibhaft", 1992,  in “Literatur und Kritik“, September 1977, „die Rampe“, 1/85, 2/91,  2/94,4/09 „Facetten“ 1995,  1997, 2003, 2006 und 2009, “Landstrich“  2004, 2005, 2006 und 2009, seit gut 20 Jahren in den Jahrbüchern der Innviertler Künstlergilde und in diversen Anthologien und Zeitschriften.
Publikation der archäologischen  Forschungsergebnisse zum Beispiel jährlich  ab 1998 in den „Fundberichten aus Österreich“, in der landeskundlichen Reihe  „Bundschuh“ , in der Kulturzeitschrift “Landstrich“, in den Heimatbüchern der Region und den Publikationen des oberösterreichischen Landesmuseums. Preisträger des Wilhelm Szabo - Lyrikpreises 2002 und des Wettbewerbs der „Nationalbibliothek des deutschsprachigen Gedichts“ 2003 und 2010.
Website: http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Rager

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